BRÜSSEL/KIEL. Vor einer Überbewertung von Verlagerungseffekten im Zusammenhang mit Klimaschutzmaßnahmen warnt der Kieler Agrarökonom Prof. Christian Henning. „Das Hauptargument gegen die Dramatisierung der Leakage-Effekte ist, dass es sich hier um ein temporäres Phänomen handelt, das mittelfristig in dynamischen Anpassungsprozessen eliminiert wird“, erläutert der Wissenschaftler im Interview mit AGRA-EUROPE. Wie er ausführt, kann insbesondere durch die direkte Bepreisung von Ökosystemleistungen in der EU technischer Fortschritt induziert werden. Das sei aktuell bereits am technischen Entwicklungspotential in der Fleisch- und Milchproduktion zu beobachten.
Um mittelfristig intensiv Milch ohne die Umweltbelastungen durch CO2- und Stickstoffemissionen zu produzieren, könnten laut dem Wissenschaftler potentielle Leakage-Effekte temporär in Kauf genommen werden, weil dadurch technischer Fortschritt angeregt werde. „In zehn oder zwölf Jahren wären wir dann so weit, dass die Produktionsumlenkungen so niedrig sind, dass wir praktisch keine Leakage-Effekte mehr hätten“, so Henning. Wichtig wäre dabei allerdings, hinreichende ökonomische Anreize für die Umsetzung des technischen Fortschritts zu setzen.
Ausdrücklich entgegen tritt der Agrarökonom Interpretationen seiner Studie zu den Auswirkungen des Green Deal, nach denen die Versorgungssicherheit gefährdet würde. „Insbesondere würden auch unter den neuen Rahmenbedingungen, die zudem nur kurzfristig bestehen dürften, die Farm-to-Fork-Maßnahmen beziehungsweise der Green Deal, die ja längerfristig ausgelegt sind, niemals die Versorgungssicherheit in der EU gefährden“, stellt der Wissenschaftler fest.
Die Aussetzung der Stilllegungsvorgaben im kommenden Jahr ist für ihn eher „symbolischer Natur“. Der kurzfristige Effekt werde für die Versorgungssicherheit in der Gemeinschaft überhaupt keine Rolle spielen; Gegen die Maßnahme spreche zudem, dass der politische Schwung, der durch die Farm-to-Fork-Strategie entstanden sei, erst einmal gestoppt werde.
Das in diesem Zusammenhang oftmals angeführte Argument der Ernährungssicherung in ärmeren Länder lässt Henning nur anteilig gelten. „Im Wesentlichen ist das Versorgungsproblem ein Verteilungsproblem“, so der Wissenschaftler. Trotzdem dürfe nicht vergessen werden, dass ein nicht gelöstes Verteilungsproblem durch eine höhere Versorgung, also eine Ausweitung der Produktion, abgeschwächt werden könne. AgE